Florian Wieser, Inhaber des Beratungsunternehmens The Relevent Collective, wurde im “Who is Who der Digitalisierung” in der BILANZ als einflussreiche Person der Digitalisierung bezeichnet. Der mehrmalige Firmengründer berät Unternehmen in der Optimierung von Kunden-Beziehungen in der digitalen Welt. Er ist zudem Gründer von ThePurpose.Academy und Dozent an der Hochschule Luzern, der Universität Zürich und der HSG. Wir konnten mit Florian Wieser ein interessantes Gespräch führen zum Thema “Human meets Digital”.
Als Gründer eines Beratungsunternehmens für zukunftsorientierte Unternehmen ist digitale Kommunikation ein Kernstück Ihrer Tätigkeit. Führt die digitale Kommunikation die Menschen näher zusammen oder entfremdet sie sie?
Die digitale Kommunikation führt klar zusammen. Wenn Sie an Ihre Inbox denken, werden Sie nun innerlich abwinken und sagen: “Wenn der Wieser wüsste!”. Deswegen ist die Frage ja auch richtig gestellt, ob digitale Kommunikation die Menschen zusammenbringt und nicht, ob E-Mail die Menschen zusammenbringt.
Die digitale Kommunikation umfasst weit mehr als die “Inbox of Hell”. Wenn wir unser digitales Leben betrachten, dann haben wir diverse Chats, die sozialen Netzwerke und tummeln uns in Special Interest Foren. Wir vernetzen uns täglich mit Themen und Menschen. Der “crazy Typ” mit dem selbstgebauten Elektro-Hippiebus aus Austin, USA oder das vegane Rezept von Userin Claire aus Paris, die Kollegin von der anderen Abteilung, die Chefin, die Nachbarin und Onkel Hans. Lauter Micro-Beziehungsimpulse, die ausgetauscht werden. Manchmal einfach nur als Zuschauer aufblitzend in Statistiken einer Website, manchmal als Kommentatoren, manchmal Sterne vergebend oder als engagierter Erdenbewohner*in, Themen vorantreibend und zusammenarbeitend. So werden auch die drei Typen von Teilnehmer*innen in virtuellen Communities definiert. Im Durchschnitt geht man von einer Verteilung der drei von 90% Zuschauer*innen, 9% Kommentator*innen/Bewerter*innen und 1% sogenannten Superusern aus, Menschen, die neue Themen in eine Gemeinschaft einbringen und starten. All diese Interaktionen zahlen auf “Nähe” zwischen Menschen in irgendeiner Form ein.
Aber kann man diese Form von digitaler Kommunikation wirklich als Beziehung bezeichnen?
Vielleicht sagt nun eine innere Stimme: “Nähe! Pah! Das ist alles oberflächliches Gedöns, weit weg von Nähe, geschweige denn Beziehung.” Dann sollten wir vielleicht Beziehung definieren? Oder ist ein Smalltalk vor dem Supermarkt, wo es meist ums Wetter geht, also null Inhalt, näher als ein Kommentar bei einem entfernt Bekannten auf Facebook?
Prof. Mark Granovetter hat in seiner bahnbrechenden Arbeit “The Strength of the weak Ties” vier Parameter definiert, die eine Verbindung zwischen Menschen ausmacht: Zeit, Intensität, Vertrauen und Gegenseitigkeit. Haben wir zu viele “Freundschaften”, leidet einer der vier Punkte und die Verbindung zueinander wird schwächer. Insofern ist für mich die noch spannendere Frage, an der ich über 15 Jahre arbeite: Was kann digitale Kommunikation zur guten Beziehung zwischen Menschen beitragen?
Klingt alles nach rosa Brille? Wo ist die Downside der digitalen Kommunikation? Auch hier gilt: Die Menge macht das Gift. Ist es nicht legitim, dass wir zuerst im völligen Überfluss, alles ausprobieren, unvernünftig viel, ohne dauernd an die Folgen zu denken? Entdecken wir nicht genau so die Grenzen, um zu reflektieren, was uns Menschen gut tut und wo es kippt, was uns vorwärts bringt und was uns bremst? Wir müssten in die Kristallkugel blicken, um verlässliche Aussagen über Langzeitauswirkungen machen zu können. Sind denn die “glowing kids”, wie man die jüngste Generation nennt, wirklich alle hyperaktiv und sozial unterentwickelt, wenn sie so früh mit Smartphones und Tablets in Kontakt kommen und ihre Eltern dauernd in die Screens schauen? Ein bewusster Umgang, inklusive dem Ausloten von Grenzen, bringt uns weiter als die hysterische Diskussion über schwer einschätzbare Gefahren. Deshalb ist es wichtig, interessiert und wach zu bleiben.
Welches sind die Chancen und Gefahren für den Menschen respektive für die Gesellschaft in Anbetracht der rasant voranschreitenden digitalen Kommunikation?
Es geht über die Kommunikation hinaus. Ohne das Digitale keine so rasant voranschreitende Globalisierung. Ohne das Digitale keine explodierende Technologisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.
Die grösste Chance ist die Vernetzung. Alles ist vernetzt. Mich interessiert hier vor allem die Vernetzung von Themen, Interessen und Menschen, sowie Gruppierungen, Organisationen und Unternehmen. Auch wenn nun die Maschinen gerade ihren Vernetzungs-Frühling haben, interessiert mich das schaffende Wesen “Mensch” wesentlich mehr.
Durch die hohe Vernetzung haben wir selbstregulatorische Systeme entwickelt. Sobald etwas zu mächtig wird, wird es eine Gegenbewegung geben. Wird der Staat zu überwachend, werden wir Menschen Gegenbewegungen und Gegenentwürfe haben, um dem entgegenzuwirken. Mit der Vernetzung kommt auch die Aufklärung. Wenn wir auch aktuell mitleidend oder sicher mitfühlend in arabische Länder oder die Türkei schauen, Länder, in denen dieses freie Handeln noch nicht funktioniert und man sich unter Einsatz des Lebens für etwas einsetzen muss, so ist zumindest das Feuer entfacht. Die neuen Generationen wachsen bereits mit diesem Feuer auf und werden sich fragen, wie man es am Lodern hält oder sogar weiter entfachen kann. Die Repressalien sind hart und kurzfristig scheinen sie sogar effektiv. Aber der “Schwielbrand Freiheit” wird sie überstehen. Das zeigt uns die Geschichte immer und immer wieder. Oppositionen können jederzeit stark werden.
Wir Menschen werden die Chancen im Umgang mit der Vernetzung zu nutzen wissen. Die Evolution hat bisher gezeigt, dass wir diese Kompetenz haben, diesen Überlebenswillen, der so stark ist und uns anpassungsfähig macht. Also machen wir etwas daraus und bilden starke Netze, elastische Zusammenlebensformen, die solche Neuerungen zulassen können und sogar Neues daraus entstehen lassen.
Welche Verantwortung tragen Organisationen, die die Digitalisierung mitprägen respektive vorantreiben?
Profitorientierte Organisationen werden primär immer auf ihren Eigennutzen achten. Ich bin hier eher pessimistisch, wieviel Verantwortung sie darüber hinaus bereit sind zu tragen. Das sind dann Gefahren, mit denen wir bewusst umgehen lernen müssen. Wach sein, wenn die Macht sich monopolisiert. Wir sind aktuell in einem gefährlichen Machtkonsolidierungsprozess in der Wirtschaft. Der Ruf nach neuen Organisationsformen, der Ruf nach aktiver Haltung zeigen und Position beziehen wird die Machtkonzentration hinterfragen. Je mehr Geld man mit dieser Haltung machen kann, umso schneller wird sich der Erfolg neuer Denkweisen auch einstellen. Also hoffen wir, dass sich die Organisationen schnell verändern, weil sie nur mit der neuen Haltung viel Geld verdienen können.
Und welche Rolle kommt Ihrer Meinung nach Kunstschaffenden in der voranschreitenden Digitalisierung zu?
Von den Künstlern wünsche ich mir stetiges, kritisches Beobachten und den Spiegel hinhalten denen gegenüber, bei denen es nötig ist. Sie sollen wachrütteln, anprangern, stören, zum Diskurs einladen und zum Denken anregen. Sie sind unsere Chance, die Orientierung nicht zu verlieren. Sie sollen Referenzpunkt sein, um Perspektiven immer wieder ändern zu müssen. Ich wünsche ihnen, dass sie sich vom Markt nicht fressen lassen. Darüber hinaus wünsche ich ihnen, dass wir Gesellschaftsformen finden, zum Beispiel mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, in denen freies Denken und Arbeiten und schlecht verdienen keinen Zusammenhang mehr haben. Ich wünsche mir die Kunst als aktiven Teil des neuen Gemeinsam, ohne Marktregeln, sondern als Quelle der Reflektion und des Diskurses.
Welche Trends erkennen Sie in der Kommunikation? Wie werden wir in zehn Jahren kommunizieren?
Alles wird dialogischer. Daher sehe ich viel Potential in Chats und Chat ähnlichen Tools. Wir werden wieder mehr in Richtung Konversation gehen, weg von dem ermüdenden E-Mail Duktus, was eher einer beschriebenen Taskliste gleichkommt. Daher heisst es ja auch E-Mails abarbeiten. Wo ist hier die Lust an der Konversation? Haben sie schon einmal gesagt, sie müssen Ihre Whatsapp Nachrichten abarbeiten? Spätestens jetzt ist klar: Ich mag E-Mails nicht. Es ist der schlimmste Lebenszeitfresser, der je erfunden wurde. Neben dem Fernseher.
Wir werden lernen, mit Information bewusster umzugehen. Auf Fake News werden wir sensibilisierter werden und sie werden sich nicht wie aktuell ein paar Stunden oder Tage halten, sondern Sekunden und Minuten.
Bisher lassen wir uns von der Informationsflut übertölpeln. Wir haben auch noch nicht so viel Übung. Aber manchmal haben wir das Gefühl von Wellenreiten…und wenn wir dieses Gefühl von oben aufschwimmen nähren, dann werden wir zu Informationskuratoren. Die Algorithmen werden die Filter-Bubbles nicht aufrechterhalten können, weil wir uns immer vehementer gegen das Bevormunden durch Algorithmen und die Firmen, die sie zur Verfügung stellen, wehren werden. Wir werden den Zufall wieder zurückerobern wollen. Wir werden Workarounds entwickeln, die uns dabei unterstützen werden – Anti-Algorithmen. Wir werden virtuoser mit Text, Audio, Bild und Video umgehen, das Multimediale perfektionieren, um uns auszudrücken, zu vermitteln, durchzusetzen und Position zu beziehen.
Sind Sie aufgrund Ihrer Tätigkeit auch in Ihrem Privatleben digitaler als andere? Welchen Stellenwert nehmen klassische Kommunikationsmittel wie Print oder TV in Ihrem Alltag ein?
Ich lese soviel wie noch nie. Soviel zu den Studien, dass mit den Smartphones immer weniger gelesen wird. Wir hatten noch nie so einfachen Zugang zu textbasierter Information. Neben den gern zitierten tausenden von Werbebotschaften, die auf uns täglich einprasseln, haben wir nun die unzähligen Informationen und Stories, die unsere Aufmerksamkeit auch noch wollen. Ich geniesse es sehr, DIE ZEIT in Papierform zu lesen. Ich schaffe es nicht, in das eReading zu kommen. Ich vermisse das zufällige Aufschlagen eines Buches, um an der Stelle kurz reinzulesen. Da ich hauptsächlich Fachbücher lese, ist das ein wichtiges Feature, das ich mit dem eReader einfach nicht hinbekomme. Daher sind auch Bücher bei mir noch gedruckt. Ich liebe den Duft des versteckten Wissens in den Büchern. TV ist tot. Ich will nur noch on Demand.
Ich bunkere auch digital nichts. Netflix, Amazon Video, Apple TV, was anderes kommt mir nicht mehr vor die Augen. Musik streame ich nur noch, mir gehört kein einziges Album mehr. Die digitalen Geräte sind omnipräsent und ich muss sehr diszipliniert sein, um OFF-Zeiten zu haben. Mir helfen dabei physisches Weglegen, WLAN ganz abschalten zu Hause oder Apps, die die dialogischen und Microfeedback-fokussierten Apps wie Whatsapp, Facebook, Twitter, Instagram, Slack und E-Mail blocken. Das mach ich vorallem in den Ferien. Denn ich brauch das Smartphone ja als Fotokamera, Nachschlagewerk, Maps und Notizblock.
Bei meinen Kindern, 8 und 4 Jahre alt, beobachten meine Frau und ich mit wachem Auge, was sie mit den Geräten tun. Ja, sie schauen stundenlang Serien, um dann die erlebten Welten in der echten Welt mit LEGO nachzubauen und zu verdauen.
Bei dem Thema Digitalisierung und Kinder sind wir weit weg von einem Verständnis der neuen Chancen. Wir schaffen es aktuell nicht über Filter, Zeitlimitierung und Überwachung hinaus. Niemand denkt über das erschaffende Zusammenspiel nach. Daher forscht meine Frau auch an dem Thema und arbeitet an einem Buch über die Gestaltungskraft mit Screentime, wie man das Digitale in der Erziehung und Kindheit auch erleben kann. Über Regeln und Kontrolle hinaus. Im Kern geht es wieder um die Vernetzung.