Stephan Sigrist ist Gründer und Leiter des interdisziplinären Think Tank W.I.R.E., der sich seit rund zehn Jahren mit globalen Entwicklungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft beschäftigt. Er unterstützt Unternehmen sowie öffentliche Institutionen in der frühen Erkennung neuer Trends und deren Übersetzung in Strategien und Handlungsfelder.
Warum widmen Sie sich der Zukunft? Worin liegt das begründet?
Ich habe als Kind sehr viel Science Fiction gelesen und Filme von Jules Vernes bis zu Star Wars geschaut. Science Fiction war für mich schon damals nicht zwingend mit Zukunft verknüpft sondern eher eine Parallelwelt, die Alternativen zur Realität zeigt, in der die Grenzen aufgehoben werden können. Diese Erkenntnis treibt mich auch heute an, die Auseinandersetzung mit der Zukunft braucht ein Verständnis der Gegenwart – die Wissenschaft – es braucht aber auch Fantasie und Imagination.
Zudem hat mich schon immer interessiert, wie die Welt im Grossen – und Kleinen funktioniert. Als Naturwissenschaftler – ich habe Biochemie an der ETH studiert – versucht man zu verstehen, wie ein komplexer Mechanismus, den man als Ganzes nicht begreift, in den einzelnen Teilen funktioniert. Von den Teilen her erkundet man das Ganze und bildet ein Modell, das die Funktionsweise eines Organismus beschreibt. So ähnlich arbeiten wir auch mit W.I.R.E. – in Bezug auf Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Auch in diesen komplexen Mechanismen versuchen wir herauszufinden, wie eines zum anderen führt.
Wenn man sich so intensiv mit der Zukunft auseinandersetzt, kann das Angst auslösen, aber auch Sicherheit schaffen. Wie ist das bei Ihnen?
Unsicherheit kann immer Ängste auslösen – und auf der anderen Seite Hoffung auf eine bessere Welt. Eine Sicherheit über künftige Entwicklungen gitbt es ja nicht, auch wenn sich das viele Menschen natürlich wünschen würden. Die Digitalisierung bringt mit sich, dass wir uns so intensiv mit der Zukunft beschäftigen, wie das zuletzt in den den 60er-Jahren, als gesellschaftliche Aufbruchstimmung herrschte, der Fall war. Zum einen gibt es momentan ganz viele Menschen, die extrem euphorisch sind. Sie glauben an die komplette Digitalisierung aller Lebensbereiche, an die Technologie die auf alle Herausforderungen eine Antwort liefert. Auf der anderen Seite löst der schnelle Wandel aber auch Ängste aus – beispielsweise hinsichtlich der Automatisierung von Arbeit. Beide Sichtweisen sind gerechtfertigt, allerdings vermisse ich vermisse aktuell eine intelligente und weitsichtige Auseinandersetzung mit dem Thema. Wir sehen nur zwei Extreme: Die einen sagen, es sei eine Revolution in der Technologie unsere Probleme löst und die anderen haben Angst, dass wir alle untergehen.
Wie soll man Ihrer Meinung nach mit dem Thema Digitalisierung umgehen?
Zunächst mit Rationalität. Denn nur so können wir prüfen, ob die Hoffnungen auch wirklich Sinn machen. Wir versuchen zum Beispiel mit einem gesamtheitlichen Analysefokus einzuschätzen, ob es einen Markt für Haushaltsroboter gibt, bevor wir in eine Euphorie für diese entwickeln. Die Grundlage liefert natürlich die Technolgie, dann aber braucht es den Regulator der Geräte auch zulässt. Vor allem aber geht es doch darum, ob ein Roboter am Ende tatsächlich Nutzen stiftet, ob wir solche Geräte zuhause haben möchten oder nicht.
Glauben Sie, dass der Mensch die Digitalisierung vorantreibt oder dass die Digitalisierung den Menschen antreibt?
Es ist eine Wechselwirkung. Allerdings steht der Mensch doch im Zentrum: Wir treiben die Digitalisierung voran, denn wir entwickeln Algorithmen und entscheiden, ob wir Sensoren in unseren Wohnungen oder Uhren einbauen. Natürlich hat die Digitalisierung auch eine Eigendynamik, die sich nicht einfach mehr aufhalten lässt, aber es wird durch mehrere Einflussfaktoren gesteuert. Daher sollten wir von diese Wechselwirkungen sprechen. Das Angstbild einer Welle, die uns komplett überflutet, finde ich jedoch deshalb nicht richtig. Es gibt trotz Eigendynamik des Systems relativ viele Entscheidungen, die wir als Individuen oder auch als Vertreter von Unternehmen treffen können.
Können Sie ein Beispiel machen?
Ich kann mich entscheiden, ob ich ein Handy habe oder nicht. Auch kann ich an ganz vielen Stellen das GPS-Tracking abstellen. Ich kann Facebook so konditionieren, dass ich nicht alle drei Minuten ein Posting bekomme. Ich kann Facebook auch überhaupt nicht nutzen. Da gibt es sehr viele Stellschrauben. Digitalisierung ist eigentlich ein kultureller Prozess, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht. Wir bekommen neue Anwendungsbereiche, die uns Dinge ermöglichen, die auch Risiken mit sich bringen. Wir können uns über Computer oder Internet mit anderen vernetzen, wir können virtualisieren, zum Beispiel bei Skype Calls oder Computerspielen, wir können automatisieren und Sachen auslagern oder wir können Neues realisieren, zum Beispiel, indem wir mit einem 3D-Drucker beliebige Prototypen bauen.
Die Grenzen zwischen analoger und digitaler Welt verfliessen. Was bedeutet das für den Menschen?
Zum einen, dass die digitale Infrastruktur unsichtbar wird. Dadurch nehmen wir etwas, das unser Leben stark prägt, nicht wahr. Zum anderen haben wird durch die Vermischung von analog und digital bessere Gestaltungsmöglichkeiten, denn die Interfaces, mit denen wir alles steuern können, werden besser. Die Aufgabe für Unternehmen aber auch für die Politik und die Wissenschaft wird immer mehr darum gehen, den Menschen zu befähigen, den eigenen Wirkungskreis zu vergrössern. Wir können beispielsweise im Finanzbereich unser eigenes Produkt zusammenstellen, man kann selber Trades machen und so weiter. Gleichzeitig wächst damit auch die Komplexität und der Anspruch an die Nutzer. Innovation setzt dort an, dass sie zum einen neue Anwendungen ermöglicht, gleichzeitig sicher stellt, dass die Überforderung nicht noch weiter zunimmt. Es wird darum nicht allein darum gehen, alles was technisch machbar ist umzusetzen, sondern das was wünschbar ist. Und dies erfordert wiederum nicht nur Fähigkeiten wie das Programmieren, sondern das Verständnis von Mensch und Gesellschaft.
Sie sprechen grössere Unternehmen und Start-ups an. Welche Verantwortung tragen diese bezüglich Digitalisierung?
Grundsätzlich ist der Verantwortungsbereich eines Unternehmens immer der gleiche – egal mit welchen Technologien es arbeitet: Er umfasst seine Positionierung auf dem Markt, das heisst, es trägt Verantwortung gegenüber den Kunden. Dadurch ist ein Unternehmen immer eingebettet in eine Gesellschaft, in eine Umwelt und hat in dem Sinn auch eine Verantwortung für die weitere Umgebung.
In einer digitalen Welt muss ein Unternehmen diese Verantwortung stärker wahrnehmen, weil die Vernetzung zwischen den einzelnen Sphären – Kunde, Gesellschaft, Umwelt – transparenter ist als früher. Zudem sind die Auswirkungen, die ein Unternehmen auf die Umgebung haben kann – in die positive oder die negative Richtung – grösser, weil sie örtlich weite Kreise ziehen und sehr schnell von Statten gehen.
Woran denken Sie?
Konkretes Beispiel dafür ist Airbnb, das im Prinzip die primäre Verantwortung übernimmt, für seine Kunden eine schöne Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Das hat aber auch eine gesellschaftliche Konsequenz, weil durch die angebotenen Mechanismen plötzlich Wohnraum einfacher vermietbarer wird. In gewissen Grossstädten wie zum Beispiel Berlin und London sieht man, dass ganze Stadtquartiere zu teuer und nicht mehr zugänglich sind für die lokale Bevölkerung. Die Rückkopplungseffekte, die in der alten Welt relativ lange gedauert haben, zeigen sich heute sehr schnell. Das heisst, die Wahrnehmung der Verantwortung wird dringender. Nimmt ein Unternehmen sie nicht wahr, kommt es zu einem Backlash.
Virtuelle Welten und Angebote werden gestaltet. Welche Verantwortung haben Kunstschaffende bezüglich Digitalisierung?
Kunst hat eine ganz konkrete und grosse Verantwortung im Antizipieren sämtlicher Möglichkeiten. Kunst kann auch Hoffnungen und Ängste thematisieren und einen Dialog darüber, was aktuell in unserer Gesellschaft passiert, vorantreiben. Vieles von dem, das in unserer sehr durchrationalisierten Welt auf Excel-Sheets beruht, kann dort losgelöst davon angesehen werden. Kunst kann Brücken bauen zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Sie kann nicht offensichtliche Verbindungen sichtbar machen und Menschen damit emotional treffen. Ich glaube daher, dass es vielen Unternehmen gut tun würde, mehr mit Künstlern zu arbeiten und künstlerische Elemente aufzugreifen. Bei W.I.R.E. tun wir das und Nutzen Design oder Kunst für genau diese Schnittstellen.
Was bedeutet die Digitalisierung für unsere Fortbewegung?
Ich glaube, die Fortbewegung wird schneller und effizienter werden. Es kann sein, dass Hochgeschwindigkeitszüge für längere Strecken eingesetzt werden. Ob wir genug Kerosin haben, um weiterhin günstig zu fliegen, wird sich noch zeigen. Aber die Digitalisierung wird dazu beitragen, dass wir effizienter unterwegs sein können, weil Züge in kürzeren Takten fahren können und das Ampelsystem cleverer wird. Die Bedeutung von Mobilität als Statussymbol wird vermutlich abnehmen. Nicht reisen zu müssen oder nur dann zu reisen, wenn es tatsächlich mit einem ganz spezifischen Wunsch verbunden ist, wird meines Erachtens zum Luxus. Das heisst, wir werden ganz explizit nach Möglichkeiten suchen, uns eben nicht oder nur lokal zu bewegen. Stadtquartiere werden wieder mehr Dienstleistungen beherbergen, damit wir nicht mehr in den grossen Supermarkt am Stadtrand fahren müssen. Das Lokale wird wichtiger werden.
Was halten Sie von Social Media?
Mit der Automatisierung der Datenvermittlung werden wir mit immer mehr Fakten überhäuft, die oftmals nicht mehr gelesen werden. Es droht eine Überforderung und eine wachsende Intransparenz. irrelevanten Informationen zugemüllt. Mit W.I.R.E. sind wir bewusst nicht in den Sozialen Medien vertreten. Gute Kommunikation – und damit auch Werbung – liegt nicht in der Frequenz, sondern in der Glaubwürdigkeit. Und diese kann man sich mit Lärm nicht erkaufen.
Die zwei- und dreidimensionale Wissensvermittlung von W.I.R.E. zeichnet sich durch die Verbindung von Inhalt und Form sowie einen hohen Anspruch an Ästhetik und Design aus.
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