Selma Lagerlöfs berühmtester Roman «Nils Holgersson» kennt jedes Kind. Doch wer war die Schwedin, die 1909 als erste Frau den Literaturnobelpreis erhielt? Die Biografen sind sich einig: Selma Lagerlöf war sowohl engagierte Kämpferin gegen soziale Ungerechtigkeit als auch zarte Poetin und Philanthropin mit grossem Herz. 2020 jährt sich ihr Todestag zum 80. Mal.
Selma Lagerlöf gehört neben Astrid Lindgren zu den berühmtesten schwedischen Schriftstellerinnen. Es war ein langer Weg dorthin, der nicht leicht begann. Ihr Start ins Leben war ein schmerzvoller – ein Hüftleiden isolierte sie von anderen Kindern und zwang sie mehrfach zu schmerzhaften Therapien. Anstatt herumzutollen, kompensierte die kleine Selma ihre physische Einschränkung mit ihrer Fantasie, in der sie sich frei bewegen konnte. Sie las leidenschaftlich viel und liebte die Geschichten ihres Vaters, ihrer Grossmutter oder der Bediensteten, die sie auf dem elterlichen Hof Mårbacka erzählten. Auf dem Dachboden führte sie gerne selbstgeschriebene Puppentheaterstücke auf. Geschichten zu erzählen, das war ihr grosser Traum! Doch bevor Selma Lagerlöf ihrer Bestimmung nachgehen konnte, musste sie als Lehrerin ihre Familie ernähren, die in schweren Zeiten den Gutshof aufgeben mussten.
Da blieb nicht viel Zeit für Träumereien bezüglich Schriftstellerei. Erst durch ein Stipendium konnte die damals 33-Jährige ihren ersten Roman veröffentlichen. Zuerst noch mässig erfolgreich. Es folgten weitere Romane, die ihr ein gesichertes Einkommen einbrachten.
1906 kam ihr berühmtestes Buch heraus: «Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen». Es war ursprünglich eine Auftragsarbeit des Schwedischen Volksschullehrer Verbandes, ein Kinderbuch über die schwedische Kultur zu schreiben.
Unkonventionell wie Lagerlöf nun mal war, erfand sie keine liebenswürdige Figur wie Pippi Langstrumpf, sondern einen Antihelden, den 14-jährigen Nils Holgersson, ein Taugenichts, der auf dem heimischen Hof gerne die Tiere quält. Nachdem er auch noch einen Wichtel beleidigt hat, verwandelt dieser ihn in einen Däumling. Nur ein Ganter, der sich in eine Wildgans verliebt hat, erbarmt sich seiner und nimmt Nils mit auf die Reise der Wildgänse gen Norden. Unterwegs lernt Nils nicht nur die einzelnen Provinzen Schwedens kennen, sondern auch die Sagen und Bräuche der Regionen. Das Kinderbuch ist dabei sehr sozialkritisch – so wird die Armut der Landbevölkerung thematisiert, die von Grossgrundbesitzern unterdrückt werden. Während der Reise verändert sich Nils Holgersson und sein Blick auf die Welt. Ob er seine normale Grösse wieder erlangt?
Das ist jedoch nicht das Ende der Geschichte. Im gleichen Jahr, als das Kinderbuch veröffentlicht wurde, nahm die engagierte Frau ein Waisenkind bei sich auf. Er hiess: Nils Holgersson. Kein Zufall, der Junge wurde ihr wegen der Namensgleichheit vorgestellt. Nils blieb als Pflegesohn bei ihr, bis er erwachsen war und nach Amerika auswanderte.
Es gehörte zum Naturell von Selma Lagerlöf zu helfen und zu spenden, wo sie nur konnte. Das war ihr nicht genug: Zusätzlich setzte sie sich erfolgreich für das Frauenwahlrecht ein und kämpfte für bessere Arbeitsmöglichkeiten der schwedischen Frauen. In die Politik wollte sie nicht, auch wenn ihr die Wahl ins Parlament sicher gewesen wäre.
Auszeichnungen bedeuteten der ersten Literatur-Nobelpreisträgerin zwar wenig, aber mit dem Erfolg von Nils Holgersson und dem Nobelpreis-Geld konnte sie das Familien-Anwesen Mårbacka wieder zurückkaufen. Ihrer Elternhaus wurde wieder Selma Lagerlöfs Zuhause, wo sie am 16. März 1940 verstarb. Nach ihrem Tod wurde Mårbacka der Öffentlichkeit zugänglich.
Quelle Titelbild: wikipedia.de/Selma Lagerlöf, 1906, Fotograf Anton Blomberg (1862-1936).