Wie oft in der Geschichte scheiterten grosse Erfindungen, weil die Zeit dafür noch nicht reif war. So auch das Schicksal des Volvo PV36, des ersten «Stromlinien-Fahrzeugs» Europas, das ursprünglich ein Kunstwerk war.
Vor hundert Jahren war die Welt eine andere. Es war die grosse Zeit der Luftschiffe, der Futuristen, der technischen Visionäre und die Geburt des Automobildesigns. Die technische Revolution schritt so schnell voran wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Und sie wurde noch schneller – dank der neuen Wissenschaft der Aerodynamik. Auch die Ingenieure von Volvo sahen darin ein wichtiges Element der automobilen Zukunft.
Vision gegen Realität
Die Zeiten ändern sich aber in den Köpfen der Gesellschaft nicht so schnell wie in den Visionen der Futuristen. Gerade erst hat man sich an die pferdelose Knatterkutsche gewöhnt, wenn auch zögerlich. In vielen Ländern war das Fahren von Automobilen sonntags verboten. Im Kanton Graubünden waren Automobile gar bis 1925 verboten.
In diesem Kontext muss das erste stromlinienförmige Fahrzeug Europas gewirkt haben wie ein fahrendes Ufo. Das war man sich auch in Göteborg bewusst: War die Welt bereit für diese Innovation? Hinzu kam, dass Volvo anfangs der 1930er-Jahre gerade erst erfolgreich gestartet war; der ÖV4 verkaufte sich gut, ebenfalls der Nachfolger PV650. Warum also ändern, was sich gerade erst etabliert hatte?
Am Anfang war der Bilo
So kam es, dass die Volvo Gründerväter 1930 das Stromlinienprojekt outsourcen wollten, um die gerade gewonnen Kunden nicht vor den Kopf zu stossen, die sich voller Stolz ein Automobil angeschafft hatten, das ihrer Meinung nach für Jahrzehnte unverändert bleiben sollte – wie die Kutsche eben.
Aus Angst vor der öffentlichen Reaktion wurde ein Privatmann als Verantwortlicher vorgestellt: Gustaf L. M. Ericsson (Sohn des gleichnamigen Telefonherstellers). Ericsson entwarf ein Konzeptfahrzeug, das die Wissenschaft der Aerodynamik miteinbezog und in vielerlei Hinsicht faszinierend war – der Zeit weit voraus. Der Volvo Venus Bilo hatte Flügeltüren für den Zugang zum Motorraum. Das aerodynamische Automobil hatte ebenfalls einen verkleideten Unterboden, der den Staub auf der Strasse hielt – und das Auto ebenfalls. Der Volvo Venus Bilo war so spektakulär, dass die New York Times das Auto als eines der vielversprechendsten Projekte der Zukunft zeigte. Leider kam der Volvo Venus Bilo nicht über den Prototypenstatus hinaus.
Doch die Studie sollte nicht in Schönheit sterben, sondern wurde – stark angepasst – zur Vorlage für den Volvo PV36, der 1935 auf den Markt kam. Die Linienführung des Volvo PV36 war das Werk von Ivan Örnberg, einem vielseitigen Ingenieur, der in Detroit seine Automobilkompetenz erwarb und dort bereits an Stromlinienmodellen gearbeitet hatte.
Neue Massstäbe
Der Volvo PV36 war mit dem neuesten Sechszylindermotor mit 3,6 Litern Hubraum ausgestattet, der rund 80 PS leistete. Seine Höchstgeschwindigkeit betrug 120 km/h. Die Karosserie sah nicht nur modern aus, sondern setzte auch in Sachen Sicherheit neue Massstäbe.
Da der Verkaufspreis von 8500 Kronen damals sehr hoch war, wurden vom laufruhigen «Carioca» nur 500 Limousinen und ein Cabriolet gebaut. Zu den Kunden zählten neben Ärzten, Industriellen und hohen Beamten unter anderem auch die schwedische Polizei, die 18 Fahrzeuge für den Streifendienst kaufte. Der Volvo PV36 wurde nur drei Jahre lang gebaut. Das letzte Fahrzeug verliess am 16. Juni 1938 das Werk und wurde in Teheran von der schwedischen Botschaft eingesetzt.
Warum der PV36 «Carioca» heisst?
Den Übernamen «Carioca» bekam der PV36, weil dieses Volvo Modell 1933 erstmals nach Brasilien exportiert wurde und Carioca der offizielle Spitzname der Bewohner von Rio war.
Insider schätzen, dass es heute nur noch 25 Exemplare des Oldtimers gibt; die meisten befinden sich in Schweden. Eines davon ist im Privatbesitz der Familie des Volvo Mitbegründers Gustaf Larson.